Das Zeitwort 3. Bin-Form und Sei-Form
Buch | Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig. |
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Seitenzahlen | 287 - 295 |
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Unsicherheit |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
Behandelter Zweifelfall: | |
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Genannte Bezugsinstanzen: | Gebildete, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, England, Frankreich, Italien, Niedere Sprache, Umgangssprache, Gegenwärtig, Sprachverlauf, Gehobene Sprache, Sprachgelehrsamkeit, Goethe - Johann Wolfgang, Sprache der Politik, Allmers - Hermann, Frenssen - Gustav, Schiller - Friedrich, Neuhochdeutsch, Schulsprache |
Text |
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Über die Wahl dieser Kunstausdrücke steht das Nötige auf S. 47. Daß die Leser die deutschen Bezeichnungen ebenso gut verstehen und für ihr Urteil verwenden werden wie die nichtssagenden Indikativ und Konjunktiv, gilt mir für ausgemacht. Noch heftiger als über den Unterschied der 1. und 2. Vergangenheit tobt unter den Sprachmeistern der Streit, unter den grobianischen Stockmeistern der Zank, über Unterschied und Unterscheidungswert der Bin- und der Sei-Form. Wer nicht in jedem Falle so scheidet wie der auserlesene Feinmeister, begeht einen ,plumpen Schnitzer'; wer einmal die Bin-Form setzt, wo angeblich die Sei-Form allein zulässig wäre, handelt ,barbarisch', und im allgemeinen herrscht ,Verrohung' — bis auf den einen wunderfeinen Grobian. Die wichtigste, an die Spitze jeder Betrachtung gehörende Frage ist auch hier nicht die: Wie soll geschrieben werden, um keinen ,Fehler' angestrichen zu bekommen?, sondern: Wie wird von der Mehrzahl der Gebildeten gesprochen und geschrieben, ohne das Bewußtsein, ein verrohter Barbar zu sein, und ohne bei den Gebildeten und den wahren Sprachkennern anzustoßen? Schon aus dem Gezeter der Sprachmeister gegen die vermeintlich zunehmende Fehlerhaftigkeit der Bin-Form dürfen wir schließen, daß wir es hier nicht mit der ,zunehmenden Dummheit und Roheit' einzelner Schreiber zu tun haben, sondern mit einem steten und, wie es scheint, unaufhaltsamen Wandel der innern Anschauung und des daraus $Seite 288$ entspringenden Sprachgebrauchs. Der Rückgang der Sei-Form ist keine auf Deutschland beschränkte Spracherscheinung: in England ist diese Form so verkümmert, daß sie kaum mehr in Betracht kommt; in Frankreich wird von den Sprachlehrern geklagt, daß die Zahl der Sprechenden und Schreibenden mit richtigem Gebrauch des Subjonctif immer tiefer sinke, und zur Bestätigung hören wir, daß man dort zu spotten beginnt über die Gesuchtheit der Peinlinge ,qui savent manier leur subjonctif (die ihre Sei-Form, besonders die unsrer 1. Vergangenheit, des Passé défini, zu handhaben wissen). Ähnliche Klagen ertönen in Italien. In Deutschland schwindet, vor unsern hörenden Ohren noch mehr als vor unsern lesenden Augen, die Sei-Form immer mehr; in der niedern und mittlern Umgangsprache hört man sie — und zwar allein die der 1. Vergangenheit, nicht die der 2. und 3., und nicht die der Gegenwart, geschweige die der Zukunft — fast nur noch in bedingten Hauptsätzen (,Ich wäre ja dumm ..' ) und in Bedingungsätzen mit Wenn: ,.. wenn ich das täte.' In der landläufigen Schriftsprache kommt die Sei-Form der 1. Vergangenheit noch ziemlich oft vor, die der andern Zeitformen selten. In der edlen Schriftsprache ist es damit reicher bestellt, doch geht es auch da durchaus nicht nach den Förderungen der Sprachmeister, was schon darum nicht möglich ist, weil diese einander in vielen Hauptpunkten schroff widersprechen. Der sprachgebildete Leser empfindet noch das irrtümliche Fehlen der Sei-Form und erkennt den in der Tat groben Schnitzer, der in manchen Fällen in einer falschen Bin-Form stecken kann. Dies ist der herrschende Zustand, von dem wir ausgehen müssen. Der Gebildete, ja selbst der nachdenkliche Mittelgebildete fühlt sogleich den Unterscheidungswert der Sei-Form in Sätzen wie: ,Der zweite Teil des Faust verdient, daß man ihn liest; .. verdient, daß man ihn lese.' Die Bin-Form besagt: Man liest ihn, und er ist auch wert, gelesen zu werden. Die Sei-Form: Man liest ihn nicht, oder doch nicht genug, und doch verdiente (Sei-Form) er (würde er verdienen, lohnen), gelesen zu werden. — ,Wer nicht die Welt in seinen Freunden sieht, Verdient nicht, daß die Welt von ihm erfahre (Goethe).' — ,Vom Auswärtigen Amt muß gefordert werden, daß es die Deutschen im Auslande besser schützt als bisher' . Es schützt sie also schon besser? Warum dann die Forderung? $Seite 289$ Es scheint sie eben nicht genügend geschützt zu haben, daher die Forderung — eines noch nicht vorhandenen, eines erst zu hoffenden Zustandes —, ,daß es sie besser schütze' . Daß hier unbedingt die Sei-Form stehen muß (oder: müsse), fühlt jeder, der überhaupt sinnvoll spricht. Ebenso wird fast jeder Anstoß nehmen an der Bin-Form in Goethes Satz: ,Es ist sehr Not, daß man wieder Deutsch schreiben lernt.' Wenn das Not ist, und wenn es wieder geschehen soll, so geschieht es in der Wirklichkeit noch nicht, also muß die Sei-Form stehen, die da sagt: Es sei!, nicht: Es ist. Die Hauptregel für den Unterschied der beiden Aussageformen, die ja nur zweien zugrunde liegenden Denkformen entsprechen, ist allbekannt: die Gewißheit, Bestimmtheit, Wirklichkeit wird durch die Bin-Form; die Ungewißheit, Unbestimmtheit, Unwirklichkeit, das Bevorstehen, Werden, die Vermutung, der Zweifel, die Vortäuschung durch die Sei-Form ausgedrückt. Wo diese Denkformen dem Schreiber klar sind, ja wo sie ihm nur leidlich zum Bewußtsein kommen, da wird der Gebildete kaum einen Fehler begehen. Aber die vielen, vielen Zwischenstufen! Und das Denken wie Sprechen der Menschen geht in zahllosen Fällen nicht auf schnurgrader Bahn, sondern auf sehr verschlungenen Pfaden und oft auf schmaler Grenzlinie zwischen zwei Möglichkeiten. Und über allem waltet auch hier die Berge und Zeiten versetzende Phantasie des Sprechenden und der Sprache: sie entrückt uns aus der Gegenwart in die Zukunft, macht diese unsichre Ferne zur bestimmten Gegenwart, setzt uns mitten in sie hinein, so daß wir fühlen: Da bin ich, und fordert von uns den Ausdruck der Bestimmtheit: die Bin-Form. Kein Mensch spricht in lebhafter Rede: ,Ich wünsche, daß du endlich einmal Vernunft annehmest' , wie alle Sprachlehrer verlangen, sondern: ,.. daß du .. annimmst' . Niemand sagt: ,Nimm ein Licht mit, damit du nicht fallest, sondern jeder, auch der Hochgebildete, spricht: ,.. damit du nicht fällst' . Ebenso wird gesprochen: ,Wir fürchten, daß er nicht kommt.' Und doch sieht jeder Gebildete ein, daß für die Schriftsprache, allerdings nur für die gepflegte, annehmest, fallest, komme das ,Richtigere' ist oder — wäre. ,Ich bitte mir aus' , ruft ein Belästigter empört, ,daß dieser Mensch nie wieder meine Schwelle betritt.' — Betrete muß es heißen!, so warnt ihn der Sprachmeister; aber das nächste Mal, bei gleicher $Seite 290$ Gelegenheit, wird jener ebenso sprechen. Schreiben wird er wahrscheinlich in wohlgesetzter Rede auf Papier: betrete. Wo immer ein solcher Zustand der Zweisprachigkeit eingetreten ist, da zeugt alle Erfahrung dafür, daß die Sprechsprache den Sieg über die Schreibsprache davontragen wird (nicht: werde!). Der heutigen Sprechsprache grobe Vorwürfe wegen des Rückganges der Sei-Form zu machen, wagen selbst die gestrengsten Herren von der Sprachmeisterei nicht mehr, sondern sie beschränken sich auf die Forderung, in der Schriftsprache die Unterschiede der Aussageformen überall da zu bewahren, wo das ruhig überlegende, feingebildete Sprachgefühl die Unterschiede der Denkformen deutlich empfindet und deren Ausdrucksformen zu würdigen sich Zeit läßt. Auf diesem Standpunkt stehe auch ich, auf ihn wünsche ich die Leser zu stellen. ,Freuen wir uns', sage ich hier, wie ich es in meiner Deutschen Stilkunst gesagt habe, ,dieses geringen Restes alten Formenreichtums; folgen wir dem Rufe der sprachedeln Isolde Kurz: „Tretet zusammen und rettet den Konjunktiv!" — hüten wir ihn jedenfalls sorgsam. Dulden wir nicht, daß er durch gröbliche Schlamperei verwüstet werde; erlauben wir aber den Regelschmieden nicht, den wirklich bedachtsamen Schreibern unnötige Fesseln anzulegen.' Wir möchten Goethes Verse: Eines schickt sich nicht für Alle, Sehe jeder, wie er's treibe, Sehe jeder, wo er bleibe, Und wer steht, daß er nicht falle beileibe nicht in die Bestimmtheitsform gesetzt sehen. Aber wir haben schwerlich etwas auszusetzen an der Form des Satzes: ,Ich kann nicht finden, daß Wagners Musik läutert' , mag sie auch einem unfehlbaren Sprachpapst, der einzig ,läutere' fordert, ,doppelt beleidigend' klingen. Die einzige Frage, die sich der Schreiber unnachsichtig stellen und beantworten muß, ist die: Wird die Farbe meines Gedankens in diesem Falle durch die Bin-Form so genau wiedergegeben, daß ein unbefangener Leser, der nicht grade ein sprachgelehrter Fädchenzähler ist, sie genau so auf sich wirken fühlt, wie ich es beabsichtige? In dem letzten Beispiel wird der bescheidnen Fehlbarkeit, der Zulässigkeit einer abweichenden Ansicht Genüge getan durch ,Ich $Seite 291$ kann nicht finden' mit dem Inhalt des Nichtgefundenen in der Bin-Form; die Sei-Form läutere würde keine notwendige Denkfarbe hinzufügen, und — wieder muß es gesagt werden — die Künstlerin Deutsche Sprache zieht nur bei einem zwingenden Kunstbedürfnis dem einfachsten Ausdrucksmittel ein andres vor. Die Sei-Form aber erscheint den Schreibenden, auch den gebildetsten, als die weniger einfache Form, weil sie in der Redesprache verhältnismäßig selten ist, und weil alles Seltne für das Sprachgefühl leicht das Gepräge des Schwierigen, ja des Gesuchten annimmt. In solchen Fällen, wo das Gefühl und das Bedürfnis die Sei-Form fordern, wird sie von den Gebildeten in der Schriftsprache richtig angewandt; wo die Sprachmeister sie entgegen dem schriftlichen Sprachgebrauch verlangen, da begeht der Schreiber keinen Fehler, wenn er dem guten Sprachgebrauch mehr gehorcht als den Sprachmeistern. Jeder leidliche Schreiber weiß, wie sich unterscheiden und wie er demnach zu unterscheiden hat: ,Sie wollte ihm nicht schreiben, daß sie krank war' , denn sie war es wirklich und wollte ihn nicht beunruhigen — und: ,Sie wollte ihm nicht schreiben, daß sie krank wäre' (oder sei), denn sie wollte ihm keine Unwahrheit schreiben. Übrigens würde selbst die zweite Form die Auffassung erlauben, daß eine wirkliche Krankheit bestand. Die endgültig richtige Absicht solcher Sätze ergibt sich nur aus dem Zusammenhang. Heißt es von einem Beamten: ,Er bittet um Urlaub, weil er krank ist' , so wird man ihm den Urlaub zumeist wohl gewähren, denn da handelt es sich schon um das Urteil: Er ist wirklich krank. Dagegen würde in dem Falle, wo es hieße: ,Er bittet um Urlaub, weil er krank sei' , erst ein ärztliches Zeugnis bestätigen müssen, daß die Angabe des Bittenden auf Wahrheit beruhe (oder: beruht!). Daß sich das größte Werk vollende, Genügt ein Geist für tausend Hände. Zweifellos nur in der Sei-Form: vollende. ,Ich wartete, bis er kam; Ich wartete, bis er käme' — zwei ganz verschiedene Arten des Wartens mit ganz verschiedenem Ergebnis: im ersten Falle mit der Bin-Form kam er endlich, und ich konnte aufhören zu warten; im zweiten mit der Sei-Form bleibt ungewiß, wie lange ich gewartet hatte, und ob nicht ganz vergeblich. In solchen Sätzen wird $Seite 292$ der Mittelgebildete beide Aussageweisen sogar in der Rede meist unterscheiden, im Geschriebenen immer. ,Der Herausgeber ist zu der Ansicht gekommen, daß sich diese Rede Ciceros nicht für die Schule eignet.' Fühlt ein Leser die Notwendigkeit, hier eigne zu setzen? Würde die Farbe des Satzes, der Bestimmtheitsgrad der Ansicht, würde irgendetwas durch eigne geändert werden? Ich denke, nein; aber der selbsicherste aller Sprachmeister, der ,Sichere Mann', wie Mörike solche Menschen in seinem köstlichsten Scherzgedicht gleichen Titels benennt, fordert bei Strafe des Prangers mit der Schandtafel ,Wegen Sprachroheit': eigne! Wie würde der Satz in wörtlicher Wiedergabe jener Ansicht lauten? ,Ich bin der Ansicht, diese Rede Ciceros eignet sich nicht für die Schule' , und da diese Ansicht keine haltlose Vermutung, sondern eine wohlbegründete bestimmte Überzeugung ist, so steht ihr Inhalt in der Bestimmtheitsform. So soll sie auf Hörer und Leser wirken; so wirkt sie auf jeden, der sich nicht mit einem Drahtverhau von sprachlebensfremden Voreingenommenheiten, Regeln genannt, gegen jedes Eindringen der Sprachwirklichkeit verrammelt hat. Selbst die strengsten Sprachmeisterer müssen zugeben, daß in Wunsch- und Absichtsätzen mit Gegenwartsform, wo also die Erfüllung noch ganz in der blauen Unwirklichkeit schwebt, die Bin-Form des abhängigen Satzes gerechtfertigt ist. ,Wir bitten um Ruhe, damit man hören kann!' Es wäre ein starkes Stück, hier könne zu fordern, denn kein Mensch spricht so, und ich rate keinem, so zu sprechen, obwohl es bei genauer Untersuchung nicht falsch genannt werden könnte. Nun vergleiche man aber den Satz vom Auswärtigen Amt auf S. 288: dort Sei-Form, hier Bin-Form — läßt sich irgendeine feste Regel aufstellen, wonach dort die eine, hier die andre Form stehen muß (oder müsse!)? So kommt es denn für eine Unmenge von Sätzen, darunter Wunsch- und Absichtsätzen, letzten Endes einzig auf das Gefühl des Schreibers an, welche der beiden Zeitformen seinem Gedankengange den unzweideutigsten Ausdruck verleiht (oder verleihe). Ich habe freie Wahl, diesen Satz: ,In Goethes Briefen an Frau von Stein findet sich kein Wort, das unbedingt ..' entweder mit beweist oder mit bewiese zu schließen; denn beide Formen drücken gleich genau meinen Gedanken aus. Da ich mich aber beim Schreiben nur für eine Form ent- $Seite 293$ scheiden muß und nicht, wie Buridans entschlußloser Esel zwischen zwei gleichen Heubündeln verhungerte, zwischen zwei gleichwertigen Wortformen mit Schreiben aufhören will, so lasse ich mich zur Wahl von bewiese nur durch den mir besser klingenden Tonfall des Satzausganges bestimmen. Der Sprachmeisterer verlangt unbedingt bewiese und redet sich ein, dabei Abschattungen des Gedankens zu empfinden, die außer ihm kein Mensch ahnt. Selbst der oft gerügte angebliche Fehler in einem schönen von Brahms vertonten Gedicht von Allmers: ,Mir ist, als ob ich längst gestorben bin' ist, obwohl hart an der äußersten Grenze des noch Erträglichen, doch nicht so fehlerhaft, wie einige Merker schelten: die starke Umsetzungskraft des Dichters, dazu ein nicht zu verachtendes Stilgefühl für die allzu große Richtigkeit von sei hat den trefflichen Allmers, der sicherlich gewußt hat, daß die Alltagsprachlehre hier die Sei-Form fordert, dennoch gezwungen, bin zu schreiben, und das unbefangne Gefühl des Lesers oder des Hörers des gesungenen Liedes wird kaum ernsten Anstoß daran nehmen. Der Büttel mit dem kranksinnigen Krittlerohr schmält: ,Das bringt man doch beim Singen kaum über die Lippen.' — Aber man vergleiche: ,Er schüttelte sich, als wenn ihn ein Grauen überkam' (Frenssen)! Hierin wird das innere Ohr jedes Lesers eine Härte fühlen, die nur durch überkäme gelindert werden könnte. Nimmt irgendein Leser Anstoß an diesen Versen in Schillers Jungfrau: Wer sie ist, Will sie allein dem König offenbaren —? Wird hierdurch die Absicht der Rede irgendwie getrübt? Oder würde es etwas andres besagen, wenn es hieße: Wer sie sei? Ich glaube, daß kaum ein Leser einen nennenswerten Inhaltsunterschied zwischen beiden Fassungen empfindet. — Ich habe mir eine unschuldige Täuschung erlaubt: Schiller hat zufällig sei geschrieben! Wer aber nach dieser Berichtigung auf einmal wunderwelche geheimnisvolle Zwischentöne aus dem sei heraushört, der lebt in einer Gehörswelt, die uns verschlossen ist. Ich wage die Vermutung, daß Schiller eher einem Satze der Sprachlehre zuliebe, wohl gar unter dem alle Welt damals beherrschenden Einfluß Adelungs, als aus innerstem Dichtersprachgefühl heraus sei geschrieben hat. $Seite 294$ Für mich hat dieses ein ,Schulschmäcklein', wie Mörike dergleichen nannte, gleich dem von den Sprachmeistern geforderten sei in dem Gedichte von Allmers. Und wie denkt der Leser über diesen Vers in Hermann und Dorothea, der wirklich so dasteht: Sieht man am Hause doch gleich so deutlich, wes Sinnes der Herr sei —? Stünde hier ist, so zweifle ich nicht, die Gestrengen von der Sprachmeisterei würden diesen Vers längst als Musterbeispiel für die zwingende Notwendigkeit der Bin-Form nach einem Zeitwort des deutlichen Sehens, also der Gewißheit, benutzt haben. Aber Goethe hat nun einmal sei geschrieben und uns allen damit einen starken Beweis mehr für die unleugbare Tatsache geliefert, uns alle ,deutlich sehen' lassen, daß im Neuhochdeutschen kein völlig sichres Notwendigkeitsgefühl für den Unterschied der beiden Aussageweisen in allen Fällen besteht (oder: bestehe?). Und ist es nicht beachtenswert, daß Goethes berühmte Verse: Volk und Knecht und Überwinder, Sie gestehn zu jeder Zeit, Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit fast von jedem aus dem Gedächtnis Anführenden gewandelt werden in: .. Ist nur die Persönlichkeit —? Sind alle, die so sprechen und sich etwas Rechtes dabei denken, verrohte Sprachbarbaren? Das Ergebnis dieser Betrachtungen ist gleich dem über die Vergangenheitsformen tröstlich: die deutschen Sprecher und Schreiber beherrschen ihre Muttersprache nicht so elend, wie die einzig und allein in Alldeutschland richtig schreibenden vier oder fünf Sprachmeister glauben machen wollen. Sie lassen sich vom deutschen Sprachgeiste führen, der sie durch die Abschattungen des Gedankens richtig lenkt auch ohne den Leitfaden der Sei-Form in jedem von einem scheltenden Pritschmeister genannten Falle. Die Sei-Form ist doch nicht ein köstlicher Selbstzweck, der Schreiber ist nicht um ihrer willen da, sondern sie um seines unzweideutigen Ausdrucks willen; wenn er diesen ungetrübt mit der Bin-Form zu gestalten vermag, so tut er kein Unrecht. Eine Sprach- $Seite 295$ form, die keiner spricht, die uns entgegen der natürlichen Sprachentwicklung von eigensinnigen Tiftlern gewaltsam auch da aufgedrängt wird, wo für die auszudrückende Gedankenwelt kein Bedürfnis besteht, ist lebensunfähig, und selbst die Schule, die mit Recht jede brauchbare feine Unterscheidung zu hüten bestimmt ist, soll versinkende Redeweisen nicht zu retten versuchen. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | Gebildete, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, England, Frankreich, Italien, Italien, Niedere Sprache, Umgangssprache, Gegenwärtig, Sprachverlauf, Gehobene Sprache, Schriftsprache, Sprachgelehrsamkeit, Goethe - Johann Wolfgang, Gegenwärtig, Sprachgelehrsamkeit, Gesprochene Sprache, Schriftsprache, Sprache der Politik, Allmers - Hermann, Frenssen - Gustav, Schiller - Friedrich, Goethe - Johann Wolfgang, Neuhochdeutsch, Sprachverlauf, Schulsprache |
Bewertung |
ebenso gut, nichtssagend, grobianische Stockmeister, auserlesene Feinmeister, wunderfeiner Grobian, verrohter Barbar, edlen Schriftsprache, schroff, irrtümlich, sinnvoll, fast jeder Anstoß nehmen, leidlich, schmale Grenzlinie, unsicher, überlegende, feingebildete Sprachgefühl, sprachedel, sorgsam, durch gröbliche Schlamperei verwüstet, bedachtsam, unnötige Fesseln, schwerlich, unfehlbar, unnachsichtig, notwendig, guter Sprachgebrauch, ungewiß, nicht ganz vergeblich, der selbsicherste aller Sprachmeister, köstlichstes Scherzgedicht, keine haltlose Vermutung, sondern eine wohlbegründete bestimmte Überzeugung, sprachlebensfremde Voreingenommenheiten, die strengsten Sprachmeisterer, blaue Unwirklichkeit, ein starkes Stück, unzweideutig, der oft gerügte angebliche Fehler, schön, hart an der äußersten Grenze des noch Erträglichen, trefflich, kaum ernsten Anstoß daran nehmen, Büttel mit dem kranksinnigen Krittlerohr, eine Härte, nennenswert, unschuldig, wunderwelche geheimnisvolle Zwischentöne, unleugbare Tatsache, kein völlig sichres Notwendigkeitsgefühl, nicht beachtenswert, tröstlich, nicht so elend, köstlich, ungetrübt, kein Unrecht, eigensinnige Tiftler, gewaltsam, ebensunfähig |
Intertextueller Bezug | Engel: Deutsche Stilkunst, Isolde Kurz, Mörike, Adelung |