Gesessen sein oder gesessen haben? Geeilt sein oder geeilt haben?
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Buch | Matthias (1929): Sprachleben und Sprachschäden. Ein Führer durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deutschen Sprachgebrauchs. |
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Seitenzahlen | 103 - 108 |
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In diesem Kapitel behandelte Zweifelsfälle
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Nicht ganz einfach regelt sich die Verbindung des zweiten Mittelwortes mit sein oder haben in der Tätigkeitsform. Zwar das steht heute fest, daß die transitiven (geben), reflexiven (sich schämen) und bis auf wenige unten erwähnte Ausnahmen auch die unpersönlichen Zeitwörter (es friert) durchaus haben verlangen: er hatte gegeben, du hast dich geschämt, es hat (mich) gefroren. Wie: es hat geregnet, es hat gesprüht, es hat gestaubt, heißt es jetzt auch durchaus: es hat getagt. Auch von den intransitiven, d. h. den Zeitwörtern, die nicht mit einer Ergänzung im 4. Falle verbunden werden, bilden die meisten ihre zusammengesetzten Zeiten mit haben: Der Hund hat gebellt, das Kind hat gelacht. Solche Fügungen gab es aber ursprünglich gar nicht und noch bis in das 9. Jahrhundert nur ganz vereinzelt. Auch die früher auftretenden Umschreibungen des ursprünglich immer einfachen Präteritums mit sein sind zunächst spärlicher und von Haus aus von den Umschreibungen mit haben in der Bedeutung streng geschieden gewesen. Zu einem Zeitwort gehörte ursprünglich haben, wenn es einen Vorgang in seinem Verlaufe bezeichnete (verbum imperfectivum), dagegen sein//2 Diese Erklärung des Wechsels zwischen sein und haben hat zuerst O. Behaghel angedeutet in seiner „Syntax des Heliand" § 183—186 und 301, auch in seiner „Deutschen Sprache", 2. u. 3. Aufl., S. 324 (1902 und 1904) kurz erwähnt und in der „Zeitschrift für deutsche Philologie" Bd. 32, S. 71 ff. (1900) auch erklärt. Die oben zuzugrunde gelegte ausführlichste Darstellung bietet jetzt Hermann Paul, Die Umschreibung des Perfektums im Deutschen mit haben und sein. Aus den Abhandlungen der kgl. bayer. Akademie der Wiss. I. Cl., XXII. Bd., I. Abt., S. 159—210(München 1902).//, wenn es den Abschluß eines Vorganges oder das Geraten in einen Zustand bezeichnete (v. perfectivum). Von werden, sterben, bersten, schmelzen, schwellen, kommen bezeichnete zumal die Vergangenheit immer den Abschluß eines Zustandes, ein Ergebnis, und so hat die zweite Vergangenheit davon immer gelautet: geworden -, gestorben -, geborsten -, geschmolzen -, geschwollen -, gekommen sein. Außerdem sind jetzt perfektivische Zeitwörter meist die Zusammensetzungen mit ge-, ent-, ver-, er-, zer-; auch: ab-, auf-, aus-, sei es, daß sie von ungebräuchlich gewordenen einfachen Zeit-, sei es, daß sie von Eigenschafts- oder Hauptwörtern gebildet sind. So heißt es denn ausschließlich: es ist gelungen, er ist genesen, - entronnen, - entsprossen; er ist verzweifelt, - vertrocknet, - abgeblüht; die Tür ist abgeschnappt; er hat gesessen, aber: er ist aufgesessen; der Krater hat gebrannt, aber: der Krater ist ausgebrannt. Einige solche Bildungen von Eigenschaftswörtern sind: erblassen, erbleichen, erblinden, ergrimmen, erkalten; verarmen, verstummen; von Hauptwörtern: entarten, ausarten, verkohlen, verbauern, verknöchern, verjähren. Auch Umstandsangaben, die das Ergebnis einer Zustandsveränderung bezeichnen, wirken bisweilen in gleicher Weise wie die genannten Vorsilben. Es heißt zwar: das Eisen $Seite104$ hat gerostet, aber: es ist schwarz gerostet; es hat getaut, aber: der Schnee ist weich getaut; der Wein hat noch einmal gegoren, aber: der Wein ist klar -, ist zu Essig gegoren; die Wäsche hat gut getrocknet, aber: die Wäsche ist ganz (völlig) getrocknet; der Wein hat während der letzten Sonnentage tüchtig gereift, aber: der Wein ist (jetzt) völlig gereift. Das Obst hat im Keller gefault, aber wie bei Geothe: Die Schindeln sind durch die Jahreszeit ganz schwarz gefault; die Wunde hat schon (einigermaßen) geheilt, aber: sie ist (vollständig) geheilt. Das Haar hat gebleicht (ist fahler geworden), aber: sein Haar ist gebleicht (ist ganz bleich geworden). Nur zwischen gealtert sein und - haben waltet gar kein greifbarer Unterschied mehr ob. Einerseits bei verneinender Feststellung eines Ergebnisses sagt Auerbach: Das dunkelbraune Auge scheint kaum gealtert zu haben, und wieder Schiller: Mein Vater ist nicht gealtert; und anderseits bezeichnet den Grad, das Ergebnis des Älterwerdens Jeremias Gotthelf und G. Keller mit haben: So sehr habt ihr gealtert, wenigstens um zehn Jahre, und E. Hesse: wie er im Schatten ihrer Blondheit um Jahrzehnte gealtert habe; die Mutter schien sehr gealtert zu haben; dagegen Stahr mit sein: Karoline war in diesen wenigen Monaten um Jahre gealtert. Auch die Zeitwörter der Fortbewegung haben ursprünglich immer beide Perfektbildungen gleichzeitig gehabt: wenn die Tätigkeit an sich, in ihrem Verlaufe bezeichnet wurde, die Auffassung also imperfektisch war, die mit haben; wenn Beginn oder Abschluß, Ausgangspunkt oder Ziel der Tätigkeit bezeichnet wurde, die Auffassung also perfektivisch war, die mit sein. So sagt Wolfram von Eschenbach perfektivisch schon: für (= vorbei) was geloufen und geriten daz her (342, 1); aber anderseits hat von der Tätigkeit in ihrem Verlaufe noch Jung Stilling geschrieben: Ich war ein fleißiger Mann, hab über Land und Sand gelaufen. Auch heute scheidet man wohl noch: er ist davongeeilt und: er hat sehr geeilt; ich bin weiter geritten als er (Ziel!), und: er hat trotz des kleinen Mißgeschickes weiter geritten. Auch für rudern gilt z. B. noch heute der Ansatz von Adelung: sie haben den ganzen Tag gerudert, die Enten haben mit den Füßen gerudert, wie von segeln M. Dreyers: Er erzählte, wie er mit seiner Mutter gesegelt habe; aber: er ist davon, ans andere Ufer gerudert. Dem Satze Der Wind hat hurch den Wald gerauscht steht zur Bezeichnung der Bewegung in rauschendem Gewand gegenüber: Die Dame ist durch den Saal gerauscht; und dem Wir haben bis 2 Uhr getanzt, der andere: Er ist lächelnd ins Zimmer getanzt. Auch scheidet man noch: die Wasserkünste haben gesprungen und: der Reif ist gesprungen; die Soldaten haben geschwenkt (= eine Schwenkung gemacht) und: sie sind nach links abgeschwenkt; Karl der Große hat gern gejagt, und: der Meldereiter ist in einer Stunde hergejagt; der Vogel hat ängstlich geflattert, und: der Vogel ist in das Nest geflattert. Man hat (den Beginn der Handlung bezeichnend) [auf] eine Zeitung abonniert, und: man ist (bleibender Zustand) auf eine Zeitung abonniert. Th. Storm schrieb dementsprechend 3. 2. 81 noch: jetzt wo er Marseille passiert ist, während nach allgemeinem Gebrauch er hat Dresden passiert jetzt bedeutet: er ist durchgekommen, dagegen: es ist passiert so viel wie: es hat sich ereignet. Gleichbedeutend steht nebeneinander: Ekel hat und ist mich überkommen. Anderseits ist gerade bei den Zeitwörtern der Bewegung die Fügung $Seite105$ mit sein durchaus vorherrschend geworden, auch „Wo der Begriff der Tätigkeit in ihrem Verlaufe vorwiegt und auf Ziel und Ausgangspunkt keine Rücksicht genommen wird". Heut fragt uns kein Kutscher mehr wie der bei Goethe: „Hab ich nicht gefahren wie Extrapost?" Niemand sagt mehr wie Schiller: „Der Kaiser hatte an dem Entwurfe gescheitert"; und Gellert würde nicht mehr schreiben: „Sehr viele reisen im Geist und überreden sich, als hätten (sondern: wären) sie gereist". Voß schrieb noch: Ich schäme mich, daß ich gekrochen habe, dagegen v. Sybel: Ferdinand VII. war vor der rauhen Macht Napoleons gekrochen. Einem alten Musterbeispiele: der Schnelläufer hat gelaufen setzte ein Amtsblatt mit dem jüngeren Brauche schon 1890 entgegen: Heute am ersten schönen Tage ist der lange angekündigte Schnelläufer endlich gelaufen. Selbst ein Gespräch lediglich über die Art der Bewegung kann heute also geführt werden: Was habt ihr gestern angegeben? — Wir sind eine Stunde ausgerückt. — Zu Fuß oder wie? — Die Jüngeren sind gegangen, die Älteren gefahren. — Die Mutter verweist es einem Kinde, daß es zuviel herumgesprungen sei, und der Weitherumgekommene rühmt sich, viel oder oft oder gern oder weit gereist zu sein. Es heißt mit Angabe des Ausgangspunktes durchaus: das Wasser ist aus der Erde gequollen, aber auch sonst schon häufiger das Wasser ist — es hat den ganzen Tag gequollen; und höchstens in anderer Bedeutung scheidet man: die Erbsen haben schon gequollen (= sind eine Zeitlang eingequellt gewesen) und: die Erbsen sind gequollen (= sind genug gequellt, aufgequollen). Ja diese Vorherrschaft von sein ist so bestimmend geworden, daß Zeitwörter, die an sich mit haben verbunden werden, sein erhalten, wenn sie zu einem Begriffe der Bewegung geworden sind. Neben: er hat mit den Augen geblitzt, steht: der Gedanke ist aufgeblitzt; der Freier ist abgeblitzt; neben: lange hat ein Verfahren gegen ihn geschwebt; der Wahn, in dem er bisher geschwebt hatte (Goethe), anderseits: sie ist davongeschwebt; neben: er hat lange gewankt, geschwankt, auch: er ist in das nächste Zimmer gewankt, geschwankt. Es heißt: er hat getorkelt, getaumelt, aber: er ist davongetorkelt, zu Boden getaumelt. Er hatte wochenlang vor einem solchen Ereignisse gebebt, aber: ein dumpfer Widerhall ist aus der Gruft emporgebebt (Uhland); er war davor zurückgebebt. Ich habe -, mich hat geschaudert, aber: ich bin davor zurückgeschaudert. Ich habe gezittert, aber: er ist erschrocken davongezittert. Das Feuer hat mächtig geflammt, aber: der Blitz ist vom Himmel herabgeflammt. Das Feuer hat lange gelodert, aber: da war die Leidenschaft in ihm emporgelodert. Die Würste haben schon gewallt, aber: das Wasser ist übergewallt. Der Wind (die Glocke, es) hat die ganze Nacht gestürmt, aber: das wilde Heer ist durch-, vorbei-, hereingestürmt. Die Bienen haben schon geschwärmt, er hat lange für das Mädchen geschwärmt, er hat die ganze Nacht geschwärmt, aber: die Burschen sind in den Wald geschwärmt. Der Sturmwind hat gebraust, aber: der Reiter war an ihm vorbeigebraust: das Ohr hat ihm gesaust, aber: er ist davongesaust; er hatte schon drei Tage gerast, aber: er war fortgerast. Nicht anders werden sonst transitive Zeitwörter behandelt, wenn sie zur Bezeichnung einer Bewegung mit Zielangabe, also perfektivisch geworden sind. Man sagt zwar: das Holz hatte (auch: war) im Strome ge- $Seite106$ trieben, aber: die Lade war ans Land getrieben; er war (zu Boden) gestürzt, hereingestürzt; der Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen. Das Kind hat gebrochen, der Dieb hat eingebrochen, aber: das Kind ist auf dem Eise eingebrochen. Die Wunde ist aufgebrochen. Die Erfahrung hat ihm sehr am Herzen gerissen, aber: das Mißtrauen ist eingerissen; alles hat getroffen, aber: die Weissagung ist eingetroffen. Überhaupt hat sich dann die Schriftsprache, wie so oft, auch diese Doppelfügungen zunutze gemacht, wenn auch in anderm Sinne, als sie ursprünglich gemeint waren, um Bedeutungsunterschiede auszudrücken. Im eigentlichen Sinne heißt es: Er war dem Bruder in den Garten, in der Regierung gefolgt, aber übertragen: Warum hat man damals dem Haugwitz nicht gefolgt (auf ihn gehört) (Molo)? Gelegen sein ist zur adjektivischen Bezeichnung der Lage einer Örtlichkeit geworden, wie verkehrt sein im Sinne von verdreht, falsch sein und überlegen sein im Sinne von siegreich sein heute wesentlich Zustandsangabe ist. In allgemeiner Bedeutung dagegen lautet die 2. Vergangenheit von liegen: gelegen haben; ebenso sagt man in der Bedeutung „Umgang gehabt haben" heut vorherrschend: mit -, bei jemand verkehrt haben; unterlegen haben heißt soviel wie unter etwas (einen Zoll u. ä.) gefallen sein, einer behördlichen Maßnahme unterstanden haben, und in der ganz eigentlichen Bedeutung untergeschoben gewesen sein sagt man sogar: der Klotz hatte meist untergelegen, wie es von einem Verband, einem geschäfteten Kameraden heißt: er hat so und so lange übergelegen. Allerdings mehr süddeutsch sagt man: wir sind zum Tanze angestanden (= getreten), aber: ihm hat nichts angestanden (= zugesagt); Deutschland hat nicht angestanden (= gezaudert), Hakon VII. von Dänemark anzuerkennen. Auch mehr süddeutsch sagt man: Sie war auf den Stein (nieder)gesessen, aber: sie hatte auf dem Steine gesessen. Die Art der Bewegungsbezeichnungen ist maßgebend, wenn wir im eigentlichen Sinne sagen: Der Freund ist wieder fortgefahren (= abgereist), und auch in bildlichem: er ist immer im selben Tone fortgefahren; doch sagt G. Hauptmann (E. Quint): und er hatte in folgender Weise fortgefahren: ,Mit diesem Gebet ...; und durchaus hat die imperfektivische Art Geltung behalten in der Nennformfügung: er hat fortgefahren zu arbeiten. Überwiegend erzählt man heut, man sei geschwommen, aber mit Subjektsverschiebung: der Fußboden hat von Blut geschwommen, und ebenso übertragen: mir hat's vor den Augen geschwommen. Der Beamte, der Uhrzeiger ist gerückt, aber der Schachspieler hat gerückt, der Verlierer hat mit dem Gelde herausgerückt. Vom Feinde, vom Bettler heißt es: er ist durchs Land gestrichen, aber von den laichenden Fischen und springenden Zwei- und Vierfüßlern: sie haben gestrichen; ähnlich: die Polizei hat auch in der Nachbarschaft gestreift (eine Streifung gemacht), aber: der Feind ist bis in die Nachbarschaft gestreift. Neben: er hat geirrt, jetzt meist: er hat sich geirrt steht: er ist umhergeirrt, neben: er hat geeilt (= sich beeifert), er ist zu Hilfe -, ist fortgeeilt. Von den Fleischern sagt man: sie haben, von ihren Preisen: sie sind (auch: haben) wieder aufgeschlagen. Im eigentlichen Sinne sagt man: die Karten haben fehlgeschlagen, aber übertragen vorherrschend: alle Berechnungen, Hoffnungen sind fehlgeschlagen. Man bereut, einen auf die große Zehe getreten (= verletzt) zu haben, und bedauert, jemand auf den Leib getreten (einen Tritt versetzt) zu haben, aber $Seite107$ vom Jongleur heißt es, er ist dem Kraftmenschen auf den Leib getreten (= er hat sich darauf gestellt). Ähnlich steht von einem absichtlich ausgeführten Stoße haben: der Wächter hat ins Horn gestoßen, wir haben auf sein Wohl angestoßen, der Falke hat auf die Taube (herab)gestoßen; dagegen steht sein, wenn stoßen so viel ist wie: zufällig auf etwas geraten: er ist auf Fehler, auf Schwierigkeiten gestoßen; ich bin im Finstern angestoßen. Im Sinne von Anstoß nehmen oder -geben hat dasselbe Wort wieder haben: er hat bei seinem Vorgesetzten angestoßen, er hat beim Lesen angestoßen, wie es auch immer lautet: gegen die Regel verstoßen haben. Von langen (= ausreichen, [sich] strecken) heißt es: der Stoff hat gelangt, wie auch: er hat nach ihm (aus)gelangt, aber von gelangen: er ist ans Ziel gelangt. Bei Zeitwörtern, die im eigentlichen Sinne von einer Flüssigkeit als Subjekt ausgesagt werden, steht gewöhnlich sein; dagegen haben, wenn infolge einer Subjektsverschiebung die Stelle, aus der die Flüssigkeit kommt, zum Subjekt wird. Also zwar: das Wasser ist vom Berge geronnen, Tränen sind ihm aus den Augen geflossen, das Blut war in großen Massen auf die Strohmatte gerieselt, der Schweiß ist ihm von der Stirn getrieft, getropft, aber: das Faß hat den ganzen Tag geronnen, das Auge hat geflossen (getränt), der Bach hat laut gerieselt, die Stirn hat von Schweiß getrieft. Dem entspricht auch der Wechsel zwischen: der Stein hat geschwitzt, die Röhre hat gespritzt, er hat nur so von Witzen gesprudelt, der Ofen hat gesprüht, und: Blut ist aus dem Herzen des Heiligenbildes geschwitzt, das Blut ist aus der Wunde gespritzt, die Witze sind ihm nur so aus dem Munde gesprudelt, Feuer ist ihm aus den Augen gesprüht. Oft hat jetzt freilich für die Schriftsprache ein vollständiger Ausgleich stattgefunden, so daß haben oder sein allein üblich geworden sind. Wo das nicht geschehen ist, sondern die Bildungen mit haben und sein ohne Bedeutungsunterschiede nebeneinander vorkommen, halten einander mundartliche Gewohnheiten noch die Waage oder doch Winderpart, und zwar ist dann die Bildung mit sein süddeutsche, die mit haben norddeutsche Art. Allein in Frenssens ,,Jörn Uhl" stehn die drei Sätze: So hat er jahrelang durch die Dörfer getrabt. Das tut sie immer, aus Spaß, wenn ich so toll gelaufen habe. Er griff in den Kopf der Garbe, die gereift hatte. In Süddeutschland herrscht noch vor: sie waren gestanden, - gesessen; er war bei der Prüfung wohl -, auf seinem Recht bestanden, in Norddeutschland: er hatte gesessen, bestanden. In jener Art sagt Volkelt: In allen wesentlichen Richtungen ist meine philosophische Entwicklung nie stillgestanden; in dieser heißt es: die Mühle hat Sonntags immer stillgestanden. Weil Goethe in süddeutscher Weise sagte: die Figuren, die daneben gestanden waren, fügte er auch noch: die daneben gestandenen Figuren, wie wir in der überwiegend norddeutsch geregelten Schriftsprache nicht mehr sagen, weil es in dieser heißt: die Figuren, die daneben gestanden hatten. Umgekehrt ist nicht Lessings, Kants und Schillers Fügung: mit jemand so und so verfahren haben durchgedrungen, auch nicht Goethes Wechsel zwischen verfahren haben und -sein dauernd geblieben, sondern das süddeutsche: mit jemand verfahren sein hat die Herrschaft gewonnen. Der Süddeutsche spricht von Bürgern, die ihrem Herrscher treu angehangen waren, der Mittel- und Norddeutsche von solchen, die ihm treu ange- $Seite 108$ hangen hatten. L. Thoma schreibt noch: Ich war tief im Milieu gesteckt, wie schon Wieland: ich bin zu Hause gesteckt, wir Heutigen sagen in norddeutscher Art: wir haben zu Hause gesteckt. |
Zweifelsfall | |
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Beispiel | |
Bezugsinstanz | 19. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, alt, Behördensprache, Auerbach - Berthold, Hesse-Wartegg - Ernst von, Frenssen - Gustav, Hauptmann - Gerhart, Keller - Gottfried, Gellert - Christian Fürchtegott, Fachsprache (Handwerk), Goethe - Johann Wolfgang, gegenwärtig, gegenwärtig, Jung-Stilling - Johann Heinrich, neu, Kant - Immanuel, Thoma - Ludwig, Lessing - Gotthold Ephraim, Dreyer - Max, mitteldeutsch, Molo - Walter von, Mundart, Sprachverlauf, Sprachverlauf, norddeutsch, gesprochene Sprache, Schiller - Friedrich, Schriftsprache, süddeutsch, Storm - Theodor, ursprünglich, Sybel - Heinrich von, Volkelt - Johannes, Fachsprache (Medizin), Voß - Johann Heinrich, Wieland - Christoph Martin, gegenwärtig, Wolfram von Eschenbach, Bitzius - Albert (Jeremias Gotthelf) |
Bewertung |
Es heißt, Frequenz/allein üblich, Frequenz/bestimmend geworden, Frequenz/hat die Herrschaft gewonnen, Frequenz/immer, Frequenz/meist, Frequenz/nicht mehr sagen, Frequenz/überwiegend, Frequenz/ungebräuchlich, Frequenz/vorherrschend, Frequenz/wie es auch immer lautet, Frequenz/zunächst spärlicher, heißt es, heißt es denn ausschließlich |
Intertextueller Bezug | O. Behaghel: Syntax des Heliand, § 183-186 und 301, O. Behaghel: Deutsche Sprache, 2. u. 3. Aufl., S. 324 (1902 und 1904), O. Behaghel: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 32, S. 71 ff. (1900), Hermann Paul: Die Umschreibung des Perfektums im Deutschen mit haben und sein. Aus den Abhandlungen der kgl. bayer. Akademie der Wiss. I. Cl., XXII. Bd., I. Abt., S. 159-210 (München 1902), Adelung |