Voller Menschen

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Buch Wustmann (1903): Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen
Seitenzahlen 239 - 240
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Unsicherheit
Text

Das Adjektivum voll verbindet wohl jeder richtig mit dem Genitiv oder, je nachdem, mit der Präposition von, z. B.: die Straßen waren voll geputzter Menschen — er war deines Lobes voll — das ganze Haus war voll von Altertümern und Merkwürdigkeiten. Daneben ist noch üblich, das Substantiv gänzlich unflektiert zu voll zu setzen: voll Blut, voll Rauch, voll Zorn, voll Haß, voll Verlangen usw. Das ist eigentlich ein Fehler, aber einer, der nicht mehr gefühlt wird. Wenn man voll Liebe sagte, so meinte man ursprünglich auch den Genitiv. Da dieser aber beim Femininum nicht erkennbar war, verdunkelte sich allmählich das Gefühl dafür, und so ging er auch bei männlichen und sächlichen Hauptwörtern verloren. Auf dieselbe Weise sind ja auch Verbindungen entstanden, wie: ein Stück Brot, ein Glas Wein.

Nun aber voller — wie stehts damit? Im Volksmund ist es ganz gäng und gäbe, auch unsre besten $Seite 240$ Schriftsteller haben es oft geschrieben, aber heute getraut man sichs doch nicht mehr so recht, weil man so gelehrt geworden ist, daß man immer grübelt, ob man wohl auch so sagen dürfe oder nicht, aber nicht gelehrt genug, die Zweifel wieder zu bannen. Die Kirche war voller Menschen — der Kerl ist voller Neid — der Himmel hängt ihm voller Geigen — der Junge steckt voller Schnurren — der Garten ist voller Unkraut — darf man denn so schreiben? Ei, gewiß darf mans; jedermann, Hoch und Niedrig, spricht so, warum soll mans nicht schreiben dürfen?

Voller ist ein erstarrter männlicher Nominativ, der im Prädikat auf alle drei Geschlechter angewendet worden ist (ganz ebenso wie selber, und ganz ebenso wie selbst, das nichts andres als das erstarrte Neutrum selbs ist). Schon Luther scheint über diese merkwürdige Spracherscheinnng nachgedacht zu haben, aber zu der Annahme gekommen zu sein, daß voller aus voll der entstanden sei; er gebraucht es gern, aber immer nur vor dem Femininum und vor dem Plural. Auf keinen Fall hat die Bildung etwas niedriges an sich, im Gegenteil etwas trauliches, anheimelndes, und der guten Schriftsprache ist sie durchaus nicht unwürdig.//* Eine ähnlich merkwürdige Bildung wie voller ist Maler, Stücker, Tager, Jahrer in Verbindungen wie: ein Maler drei, ein Stücker drei, ein Jahrer fünf, ein Tager sechs u. ähnl. Hier ist das er der Rest eines rasch und nachlässig gesprochnen oder: ein Stück oder drei. Diese Verbindungen würden sich aber in der guten Schriftsprache doch recht seltsam ausnehmen, sie gehören nur noch der Umgangssprache an.//


Zweifelsfall

voll und sein Gebrauch

Beispiel
Bezugsinstanz Schreiber guten Stils, Literatursprache, Schriftsprache, gegenwärtig, gehobene Sprache, niedere Sprache, Luther - Martin, gesprochene Sprache, Umgangssprache, ursprünglich, Volk
Bewertung

anheimelndes, auf keinen Fall etwas niedriges an sich, darf mans, der guten Schriftsprache nicht unwürdig, eigentlich ein Fehler, aber einer, der nicht mehr gefühlt wird, Frequenz/üblich, merkwürdige Bildung, merkwürdige Spracherscheinung, richtig, seltsam, trauliches

Intertextueller Bezug