Das Beiwort *1

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Buch Engel (1922): Gutes Deutsch. Ein Führer durch Falsch und Richtig.
Seitenzahlen 122 - 125
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Unsicherheit
Text

Alle Sprachlehren versuchen für die einzig richtige Beugung der Beiwörter nach der starken (lieber, liebes, liebem, lieben; liebe, lieber, lieber, liebe; liebes, liebes, liebem, liebes; Mehrzahl: liebe, lieber, lieben, liebe) oder nach der schwachen (ohne er und es; Mehrzahl: in allen vier Fällen lieben) treffliche Beispiele und gute Lehren zu geben. Auf keinem Gebiet der deutschen Sprachwissenschaft ist die Lehre so machtlos, der Gebrauch so schwankend. Hier werden nur die schwankenden, besonders die von den Sprachbütteln mit selbstherrlicher Gewalt entschiedenen Fälle behandelt, und, wie immer, die Entscheidungen nur nach dem herrschenden Sprach- und Schriftgebrauch getroffen. Im allgemeinen ist — vielleicht mit Bedauern — festzustellen, daß sich der Sprachgebrauch mehr und mehr von der starken Beugung freimacht und der schwachen anheimfällt. Wir hören viel häufiger Lieben Freunde! als liebe ..; vieler großen Männer statt vieler großer . .; trotz allen Mühens statt trotz alles . .; alle guten Freunde statt alle gute . .; ihr guten Menschen statt ihr gute ..; Wir deutschen Gelehrten statt Wir deutsche Gelehrte; alle guten Gaben statt alle gute . . Kaum je hört oder liest man noch alles Ernstes, fast immer allen . . Allerdings in bestimmten Wendungen ist die starke Beugung widerstandsfähig geblieben: Werte Freunde oder Anwesende steht dem Lieben Freunde gegenüber, und Lieben Anwesende sagt niemand, — beinah möchte man hinzufügen: sagt noch niemand. Übrigens heißt es schon bei Bürger und Schiller: Lieben Freunde. Ein schönes Beispiel für das regellose Schwanken zwischen starker und schwacher Beugung bieten Goethes Verse: ,Gegrüßet seid ihr hohen Herrn, Gegrüßt ihr schöne Damen.'

Strenge Vorschriften zu Gunsten oder Ungunsten nur einer der zwei Beugungen zu treffen, wäre zwecklos, denn der $Seite 123$ Sprachgebrauch will sich offenbar in diesem Punkte durchaus nicht gängeln lassen. Ich selbst bevorzuge, wo immer ich's ohne Eigenbrötelei darf, die starke Beugung und habe selbst von Sprachmeisterern darob noch keinen Verweis gehört. Ich tue das, weil ich die ewige Wiederholung von .. en matt und ermüdend finde, die starke Beugung, zumal die auf er und es, als kräftiger empfinde und jede Abwechslung der Endungen mit e für nützlich halte. Da wo sich von altersher die starke Beugung erhalten hat, besonders in festen Fügungen, sollte man sie nicht ohne Not aufgeben. Gutes Mutes, alles Ernstes, reines Herzens, grades Weges, eines Teils (neben: andern Teils), keinesfalls, selbstverständlich: meines Wissens, auch: heutiges Tages, aber auch: vieler guter Menschen, aller deutscher Städte, zu Goethes ganzer späterer Entwicklung — was ist dagegen einzuwenden? Und ist nicht jedes er, jedes es eine wahre Erquickung zwischen den 4 oder mehr en, die sonst hintereinander zu stehen kommen? In älterer Zeit war die Beugung süßes Weines die Regel, süßen Weines galt für einen Fehler. Noch Klopstock beugte ausschließlich so: ,Du bist ernstes, düsteres Geistes.' Bei Goethe schwindet die starke Beugung zu Gunsten der schwachen, und es treten regellose Schwankungen ein: ,Feines Silbers genug und roten Goldes' in demselben Vers.

In abhängigen Zweitfällen steht heute durchweg schwache Beugung: ,ein Glas süßen Weines, reinen Wassers' ; bei aller Mannigfaltigkeit der Fügung wird doch nicht mehr stark gebeugt, sondern: ,eine Art feuriger Rotwein, . . feurigen Rotweins' ; mit einer Art feurigen Rotweins (daneben:feurigem Rotwein). Goethe: ,Die Kunst ruht auf einer Art religiösem Sinn' , was ebenso gut ist wie . . religiösen Sinnes. — Das Schwinden des zweimaligen .. es (süßes Weines) in allen nicht alten festen Wendungen beruht wahrscheinlich auf einem Wandel des Lautgeschmacks: der hurtiger sprechende Deutsche unsrer Zeit empfindet die beiden gewichtigen Endungen schnell nacheinander übler als seine Vorfahren.

Unverständlich für den, der sprachliche Entscheidungen gemäß dem wirklichen Sprachleben, nicht dem selbstherrlichen eignen Geschmack zu treffen pflegt, ist die Warnung einiger Sprachmeisterer vor völlig eingelebten und guten Fügungen, wie: zum Besten armer Kranker; es müsse .. Kranken $Seite 124$ heißen. Hierzu gehört auch die eigensinnige, dem Sprachgebrauch zuwiderlaufende Forderung: nur ein schönes Ganze dürfe geschrieben werden. Fast alle Welt spricht und schreibt ein schönes Ganzes. Aber nichts Eigenwilligeres als die Sprache, zumal die deutsche; sie sagt: ein schönes Ganzes, läßt sich aber hierdurch nicht zwingen ein schönes Äußeres, mein ganzes Inneres zu sagen, sondern zieht Äußere, Innere vor (vgl. S. 94).

Von einem der Gewaltner unsrer Sprache, Adelung, wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Willkürregel über die schreibende deutsche Menschheit verhängt: von zwei aufeinander folgenden Beiwörtern im 3. Fall bekommt nur das erste .. em, die nachfolgenden . . en. Hier liegt einer der zum Glück seltnen Fälle vor, wo einem ganzen großen Volke von einem sich über dessen Sprache eitel emporblähenden Zuchtmeister eine ebenso sinnlose wie falsche Sprachform aufgenötigt wurde. In allen Schulen wurde seit Adelung gelehrt, von fast allen Schreibern befolgt, es müsse heißen: mit gutem alten Wein, nach langem heißen Kampf, bei geringem eignen Verlust, nach deutschem bürgerlichen Recht, nach gutem deutschen Brauch. In neuster Zeit — Ehre, wem Ehre gebührt: zum Teil auf die Mahnung Wustmanns — wurde endlich mit der Adelungschen Vorschrift gebrochen, und selbst die Schulen haben sie größtenteils abgegeben. Goethe hatte sich nicht an sie gekehrt; bei ihm heißt es z. B.: aus natürlichem frommem Gefühl, nach bezahltem teurem Lehrgeld; auch bei Schiller steht: mit weitem flammendem Rachen. Unter den Neueren hatte sich namentlich Treitschke von jenem alten Zopfe befreit: ,Gestalten von unvergänglichem menschlichem Gehalt' ; von gutem altem Adel; nach altem germanischem Kriegsgebrauche.' Selbstverständlich heißt es nur: von diesem guten Tabak; die Doppelsetzung des m gilt nur für zwei Beiwörter. — Die Redesprache hatte sich niemals an die Adelungsche Regel gekehrt.

Für die Beugungsformen der Beiwörter auf el und er lassen sich keine bindenden Vorschriften geben. Allenfalls läßt sich feststellen, daß der Sprech- und Schreibgebrauch sich zu Gunsten folgender Formen entschieden hat: dunkler, dunkle, dunklem, dunkeln, dunkles; heiter, heitre, heiterm, heitern, heitres, ohne daß die abweichenden Formen $Seite 125$ dunkelm, dunklen, heitrem, heitren falsch zu nennen wären.

Fremde Farbenbeiwörter bleiben ungebeugt: ,eine rosa Schleife, eine lila Tulpe; es ist nicht nötig, sich mit rosa-farben zu helfen.

Dürfen wir uns noch heute einige der Freiheiten nehmen, die Goethe sich nahm und die sich gottlob die Dichter unsrer Tage noch erlauben? Zweifellos, nur dürfen wir den Sprachmeisterer nicht zuvor befragen, denn dem sind Sprachfreiheiten in groß und kleinen Dingen ein Greuel. Halt! ,in groß und kleinen Dingen — ein ungebeugtes Beiwort neben einem Hauptwort? Wenn mit Maß, selten, am rechten Ort — unzweifelhaft, denn in diesem Punkte hat sich in der gesprochenen Sprache nichts geändert seit Goethes Tagen, der nur der wirklichen Sprache nachschrieb: ,in gut und bösen Tagen, die klein und große Welt, in jung und alten Tagen, in der alt und neuen Zeit, Jeden Nachklang fühlt mein Herz froh und trüber Zeit'.

,Ein Garten voll Blumen, . . voller Blumen, . . voll von Blumen' — was ist richtig? was ist am richtigsten? Alle drei Fügungen sind richtig, und der Dichter kann noch als vierte gebrauchen: . . voll der Blumen. Am wenigsten schön, weil unnötigerweise nicht durch Beugung, sondern Umschreibung ausgedrückt, ist ,voll von Blumen. — Aber ist nicht . . ,voller Blumen nur nachlässige Volkssprache? Keineswegs, es ist gute Dichtersprache und kommt in der besten Prosa vor: ,Jetzt, da der Himmel voller Sterne glüht (Goethe im Vers), ,Das Stück war voller Handlung (Goethe in Prosa). — ,Er ist voller Eifers oder ,voller Eifer? Nur ,voller Eifer!



Zweifelsfall

Liebe X oder Lieben X

Beispiel
Bezugsinstanz Bürger - Gottfried August, Schiller - Friedrich, Literatursprache, Schriftsprache, Sprachverlauf, gegenwärtig
Bewertung
Intertextueller Bezug Adelung, Wustmann



Zweifelsfall

Partitiv-Konstruktionen

Beispiel
Bezugsinstanz Literatursprache, Sprachverlauf, gegenwärtig
Bewertung
Intertextueller Bezug Adelung, Wustmann



Zweifelsfall

voll und sein Gebrauch

Beispiel
Bezugsinstanz Literatursprache, Sprachverlauf, gegenwärtig
Bewertung
Intertextueller Bezug Adelung, Wustmann


Zweifelsfall

Präpositionalphrase oder Genitivphrase

Beispiel
Bezugsinstanz Literatursprache, Sprachverlauf, gegenwärtig
Bewertung
Intertextueller Bezug Adelung, Wustmann