Der UseCase „Narragonien digital'“ erprobt die in „Kallimachos“ entwickelten editorischen Instrumente und Verfahren anhand von Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ (1494) und seinen europäischen Bearbeitungen im 15. Jahrhundert. Zu insgesamt 15 ‚Narrenschiff‘-Ausgaben in deutscher, niederdeutscher, niederländischer, lateinischer, französischer und englischer Sprache werden elektronische Transkriptionen erstellt und Lesefassungen erarbeitet. Ein synoptischer Online-Viewer wird die Faksimiles, Transkriptionen und Lesefassungen dieser ‚Narrenschiffe‘ präsentieren und durch ein gemeinsames Register und eine Suchfunktion verknüpfen. Ziel dieser integrierten digitalen Edition ist es, die historischen Text-, Bild- und Layouttransformationen zu dokumentieren und damit die überlieferungsgeschichtliche Dynamik des ‚Narrenschiffs‘ im 15. Jahrhundert editorisch abzubilden.
Das ‚Narrenschiff‘ ist eine bebilderte Moralsatire in deutschen Knittelversen, die am 11. Februar 1494 in Basel erstmals im Druck erschien. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt des elsässischen Humanisten Sebastian Brant und seines Basler Verlegers Johann Bergmann von Olpe, an dessen aufwendiger Bildausstattung (114 großformatige Holzschnitte) wohl auch der junge Albrecht Dürer beteiligt war. Ziel dieses Narrenbuchs ist eine Didaxe ex negativo: In unterhaltsamer Form sollen die kleinen Schwächen, lässlichen Missetaten und tadelnswerten Sünden der Zeitgenossen vor Augen geführt werden, um Orientierung in Fragen der Lebensführung zu geben. Hierzu präsentiert das ‚Narrenschiff‘ eine Revue von 109 Narren, die jeweils für eine bestimmte Verfehlung stehen und in einzelnen Kapiteln in Text und Bild vor Augen gestellt werden. Der Narr ist dabei kein Außenseiter, sondern ein Jedermann, er steht nicht am Rande der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte. Das ‚Narrenschiff‘ ist insofern eine satirische Enzyklopädie menschlicher Verfehlungen, die das Ziel hat, den Leser zur Selbsterkenntnis und zur moralischen Umkehr zu führen. Leitmetapher ist dabei die Schifffahrt, die für den Lebensweg der Narren steht, der sich auf der Reise ins imaginäre Narrenland Narragonia befindet.
Das Narrenschiff ist zudem ein prominentes Beispiel für Intermedialität um 1500. Sebastian Brant und sein Basler Verleger Bergmann von Olpe wussten die gestalterischen Möglichkeiten des Buchdrucks zu nutzen: Die 109 Narrenkapitel, die jeweils zwei bzw. vier Seiten einnehmen, folgen einem Grundlayout, das jeweils Mottoverse, Holzschnitt, Überschrift, Spruchgedicht und ggf. Bordüren einander zuordnet. Das Ergebnis ist, durchaus im Wortsinn, ein „Narrenspiegel“ (Vorrede v. 31): Im aufgeschlagenen Buch kann der Leser in Bild und Text erkennen, welcher Narr er ist. Das Narrenschiff präsentiert sich insofern als ein „Bildbuch“ (J. Knape), das – als Vorläufer der Emblematik – seine Aussage durch die Kombination verschiedener Medien vermittelt. Diese konstitutive Intermedialität empfiehlt das Werk für eine digitale Edition, die der ambitionierten Buchgestaltung und ihrer überlieferungsgeschichtlichen „Beweglichkeit“ Rechnung trägt.
Die Überlieferung von Brants Narrenschiff ist beeindruckend: Allein zwischen 1494 und 1500 erschienen 28 Druckausgaben. Brant selbst hatte gemeinsam mit dem Verleger Johann Bergmann von Olpe drei deutschsprachige Ausgaben (1494, 1495, 1499) in Basel publiziert. Kurz darauf erschienen die ersten Nachdrucke, Übersetzungen und Bearbeitungen: Noch im Jahr 1494 kamen unautorisierte Ausgaben in Nürnberg, Augsburg und Reutlingen auf den Markt. Wenig später wurde die sog. interpolierte Fassung in Straßburg gedruckt. Für das europäische Fortwirken des Narrenschiffs war entscheidend, dass Brant eine lateinische Bearbeitung durch seinen Schüler Jakob Locher anfertigen ließ. Diese ‚Stultifera navis‘, 1497 in Basel erschienen, erfuhr bis 1500 sieben Neuauflagen und war ihrerseits Vorlage für Übertragungen ins Niederländische, Niederdeutsche, Französische und Englische.
I. Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘
II. Nachdrucke
III. Bearbeitungen
Ziel von „Narragonien digital“ ist es, die in dieser Übersicht rot markierten Ausgaben digital zu erschließen und in Online-Editionen (mit digitalem Faksimile, zeichengetreuer Transkription, ggf. Lesetext und überlieferungsgeschichtlichen Erläuterungen) zu präsentieren.
Längst nicht alle Narrenschiffe vor 1500 sind in Printeditionen greifbar. Während Brants deutsche Ausgabe u.a. von F. Zarncke, M. Lemmer und J. Knape editorisch erschlossen wurde, existieren von Lochers 'Stultifera navis' nur N. Hartls Teilausgabe und von der französischen Fassung des Rivière nur eine entlegene und fehlerhafte Transkription. Die Nürnberger Bearbeitung von 1494, die Straßburger Ausgabe oder die französische Prosaversion sind bislang nicht ediert. Digitale Reproduktionen der Drucke sowie verstreute e-Texte zu den Basler Narrenschiffen, deren Zuverlässigkeit bisweilen fraglich ist, liegen bereits vor. Der erste Schritt zu einer digitalen Edition, die das Narrenschiff auf wissenschaftlichem Niveau editorisch erschließt, ist daher die Bereitstellung zuverlässiger Transkriptionen:
Da nicht alle Texte händisch erfasst werden können, wird ein Teil durch OCR-Verfahren erstellt – eine Herausforderung angesichts der verwendeten Drucktypen und des anspruchsvollen Layouts. Die Transkriptionen der nicht erschlossenen Narrenschiffe werden von der Projektgruppe ‚Narragonien digital‘ mit Unterstützung ihrer technischen Partner erarbeitet. Hierzu wurden die für die OCR notwendigen Digitalisate eingeholt. Die zur Transkription der Texte im Projekt erstellten Typentabellen und Trainingsdateien werden separat gespeichert, da auch die Erfassung weiterer Texte der jeweiligen Offizin durch die Transkriptionstabellen und Trainingsdateien erheblich erleichtert wird.
Die händische Nachkorrektur des OCR-Outputs wird durch den von KALLIMACHOS entwickelten synoptischen Transkriptionseditor erleichtert, der u.a. über eine eigene Benutzerverwaltung zur Planung und Aufgabenverteilung verfügt und die Korrektur und Auswahl der aus heutiger Sicht ungewohnten Drucktypen durch die Einbindung von Typentabellen unterstützt. Die für das frühneuzeitliche Druckbild typischen Sonderzeichen können in den Editor geladen werden und stehen bei der Korrektur schnell parat. Die aufwändige und fehleranfällige Suche nach den korrekten Unicode-Zeichen und die bei der Arbeit in externen Editoren oft auftretenden Probleme bei der Wahl der Textkodierung entfallen.
Um die tranksribierten Texte gemeinsam in einer vollwertigen digitale Edition mit synoptischer Funktionalität zu vereinigen, sind umfangreiche Auszeichnungen von Text und Bild nötig. Layoutelemente wie Textspalten, Überschriften und Marginalien, aber auch semantische Komponenten wie die argumentative Struktur der Spruchgedichte werden verzeichnet und sollen auch über mehrere Ausgaben des Narrenschiffs hinweg auffindbar und vergleichbar sein. Auf der Basis von Semantic MediaWiki wird hierzu ein spezialisiertes Wiki-System geschaffen, über das die hierfür nötigen Auszeichnungen komfortabel konzeptionalisiert, strukturiert und implementiert sowie die für die spätere Anzeige im Portal benötigten Abfragen getestet werden können.
Um die Langlebigkeit und plattformübergreifende Weiterverarbeitung der Narrenschiffe zu gewährleisten, werden aus dem Semantic MediaWiki XML-basierte TEI-Dateien generiert. Die Textauszeichnung mit der Text Encoding Initiative ermöglicht einen standardisierten Austausch mit anderen (Geistes-)Wissenschaftlern. Zudem kann das Format TEI mit der Programmiersprache XSLT in beliebige Zielformate, wie beispielsweise HTML, transformiert und für eine Online-Präsentation vorbereitet werden.
Die Veröffentlichung der annotierten Narrenschiffe erfolgt über ein eigenes Online-Portal. Angezeigt wird ein E-Text, der das teils recht komplexe Layout des Originalscans möglichst zeilengetreu wiedergibt. Durch die Auflösung von Abkürzungen wird auch für Leser, die mit dem frühneuzeitlichen Druckbild und der Abkürzungspraxis nicht vertraut sind, ein komfortables Lesen der Edition sichergestellt.
In der digitalen Edition soll die Gegenüberstellung zweier Seiten im Faksimile oder im e-Text möglich sein.
Lehrstuhl für Französische und Italienische Literaturwissenschaft
Am Hubland, Bau 5
D-97074 Würzburg
Professur für deutsche Philologie, insb. Literaturgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit
Am Hubland, Bau 4
Am Hubland
Telefon: 0931/31-80534
Arbeitsgruppe Data Mining und Information Retrieval