Der UseCase „Narragonien digital'“ erprobt die in „Kallimachos“ entwickelten editorischen Instrumente und Verfahren anhand von Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ (1494) und seinen europäischen Bearbeitungen im 15. Jahrhundert. Zu insgesamt 15 ‚Narrenschiff‘-Ausgaben in deutscher, niederdeutscher, niederländischer, lateinischer, französischer und englischer Sprache werden elektronische Transkriptionen erstellt und Lesefassungen erarbeitet. Ein synoptischer Online-Viewer wird die Faksimiles, Transkriptionen und Lesefassungen dieser ‚Narrenschiffe‘ präsentieren und durch ein gemeinsames Register und eine Suchfunktion verknüpfen. Ziel dieser integrierten digitalen Edition ist es, die historischen Text-, Bild- und Layouttransformationen zu dokumentieren und damit die überlieferungsgeschichtliche Dynamik des ‚Narrenschiffs‘ im 15. Jahrhundert editorisch abzubilden.
Die Betaversion der Textpräsentation "Narragonien digital" wurde am 31.12.2020 unter http://www.narragonien-digital.de freigeschaltet.
Das ‚Narrenschiff‘ ist eine bebilderte Moralsatire in deutschen Knittelversen, die am 11. Februar 1494 in Basel erstmals im Druck erschien. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt des elsässischen Humanisten Sebastian Brant und seines Basler Verlegers Johann Bergmann von Olpe, an dessen aufwendiger Bildausstattung (114 großformatige Holzschnitte) wohl auch der junge Albrecht Dürer beteiligt war. Ziel dieses Narrenbuchs ist eine Didaxe ex negativo: In unterhaltsamer Form sollen die kleinen Schwächen, lässlichen Missetaten und tadelnswerten Sünden der Zeitgenossen vor Augen geführt werden, um Orientierung in Fragen der Lebensführung zu geben. Hierzu präsentiert das ‚Narrenschiff‘ eine Revue von 109 Narren, die jeweils für eine bestimmte Verfehlung stehen und in einzelnen Kapiteln in Text und Bild vor Augen gestellt werden. Der Narr ist dabei kein Außenseiter, sondern ein Jedermann, er steht nicht am Rande der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte. Das ‚Narrenschiff‘ ist insofern eine satirische Enzyklopädie menschlicher Verfehlungen, die das Ziel hat, den Leser zur Selbsterkenntnis und zur moralischen Umkehr zu führen. Leitmetapher ist dabei die Schifffahrt, die für den Lebensweg der Narren steht, der sich auf der Reise ins imaginäre Narrenland Narragonia befindet.
Das ‚Narrenschiff‘ ist ein prominentes Beispiel für Intermedialität um 1500. Sebastian Brant und sein Basler Verleger Bergmann von Olpe wussten die gestalterischen Möglichkeiten des Buchdrucks zu nutzen: Die 109 Narrenkapitel, die zwei bzw. vier Seiten einnehmen, folgen einem Grundlayout, das jeweils Mottoverse, Holzschnitt, Überschrift, Spruchgedicht und ggf. Bordüren einander zuordnet. Im aufgeschlagenen Buch kann der Leser in Bild und Text erkennen, welcher Narr er ist. Das ‚Narrenschiff‘ präsentiert sich insofern als ein „Bildbuch“ (J. Knape), das – als Vorläufer der Emblematik – seine Aussage durch die Kombination verschiedener Medien vermittelt. Diese konstitutive Intermedialität empfiehlt das Werk für eine digitale Edition, die der ambitionierten Buchgestaltung Rechnung trägt und die überlieferungsgeschichtliche Dynamik des Textes und seiner buchmedialen Gestaltung abbildet.
Brants ‚Narrenschiff‘ darf als ein Gründungsdokument der frühneuzeitlichen Narrenliteratur gelten. Sein Erfolg auf dem europäischen Buchmarkt war bemerkenswert. Allein zwischen 1494 und 1500 erschienen in Europa 28 Druckausgaben. Brant selbst hatte gemeinsam mit seinem Verleger Johann Bergmann von Olpe drei deutschsprachige Ausgaben (1494, 1495, 1499) in Basel publiziert. Kurz darauf erschienen die ersten Nachdrucke, Übersetzungen und Bearbeitungen: Noch im Jahr 1494 kamen unautorisierte Ausgaben in Nürnberg, Augsburg und Reutlingen auf den Markt. Wenig später wurde die sog. „interpolierte Fassung“ in Straßburg gedruckt. Für das europäische Fortwirken des ‚Narrenschiffs‘ entscheidend war, dass Brant eine lateinische Bearbeitung durch seinen Schüler Jakob Locher anfertigen ließ. Diese ‚Stultifera navis‘, die erstmals 1497 in Basel erschien, erfuhr bis 1500 sieben Neuauflagen und war ihrerseits Vorlage für mehrere Übertragungen in die europäischen Volkssprachen, u.a. ins Französische, Niederländische und Englische.
Die Druckgeschichte des ‚Narrenschiffs‘ und seiner frühneuzeitlichen Bearbeitungen wird durch die ‚Sebastian Brant Werkbibliographie‘ (Knape/Wilhelmi 2015) lückenlos dokumentiert. Während die Basler Erstausgabe mehrfach und gut ediert ist und einzelne frühneuzeitliche Bearbeitungen in brauchbaren Editionen vorliegen, existieren zu mehreren bedeutenden Nachdrucken und Bearbeitungen, die vor 1500 entstanden sind, keine oder nur methodisch problematische Textausgaben. Die Erschließung der europäischen ‚Narrenschiffe‘ des 15. Jahrhunderts ist ein Desiderat der Frühneuzeitforschung.
Eine eingehende Darstellung der Ergebnisse der zweiten Förderphase finden Sie hier.
Die angestrebte digitale Präsentation umfasst die folgenden Ausgaben und Bearbeitungen des ‚Narrenschiffs‘, die zwischen 1494 und 1509 entstanden sind:
1 Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘
2 Unautorisierte deutschsprachige Bearbeitungen
3 Niederdeutsche Bearbeitung
4 Jakob Lochers lateinische ‚Stultifera navis‘
5 Französische Bearbeitungen
Der erste Schritt zu einer digitalen Edition besteht in der Bereitstellung zuverlässiger Transkriptionen. Da nicht alle Texte händisch erfasst werden können, wird ein Teil durch OCR-Verfahren erschlossen – eine Herausforderung angesichts der verwendeten Drucktypen und des anspruchsvollen Layouts. Diese computergestützten Transkriptionen werden von der Projektgruppe ‚Narragonien digital‘ mit Unterstützung ihrer technischen Partner erarbeitet.
Hierzu werden zunächst die für die OCR notwendigen Digitalisate eingeholt, die dank der jüngsten bibliothekarischen Digitalisierungsinitiativen bereits frei verfügbar sind oder für das Projekt in hoher Qualität neu erstellt wurden. Nach einer Vorverarbeitung der Scans erfolgt die Segmentierung mittels des semi-automatischen Open Source Tools LAREX [1]. Neben einer Bild/Text-Trennung wird hierbei bereits auf Layoutebene eine detaillierte semantische Auszeichnung vorgenommen, bei der die Textabschnitte in Unterkategorien wie Haupttext, Überschrift oder Marginalie unterteilt werden. Nach dem Extrahieren der markierten Segmente erfolgt die eigentliche OCR unter Verwendung des Open Source Tools OCRopus. Die einzelnen Schritte sind die Segmentierung in Zeilen, die Erstellung von Ground Truth, das Training eines Modells und die Zeichenerkennung. Durch die Erweiterung des Standard-OCRopus-Ansatzes um Techniken wie Voting [2] und Pretraining [3] konnte die erreichte Zeichengenauigkeit noch einmal signifikant gesteigert werden, in den meisten Fällen auf deutlich über 98%.
[1] Christian Reul, Uwe Springmann, Frank Puppe: LAREX – A semi-automatic open-source Tool for Layout Analysis and Region Extraction on Early Printed Books. In Proceedings of the 2nd International Conference on Digital Access to Textual Cultural Heritage (2017). URL = https://arxiv.org/abs/1701.07396.
[2] Christian Reul, Uwe Springmann, Christoph Wick, Frank Puppe: Improving OCR Accuracy on Early Printed Books by utilizing Cross Fold Training and Voting. Accepted for DAS2018. URL = https://arxiv.org/abs/1711.09670.
[3] Christian Reul, Christoph Wick, Uwe Springmann, Frank Puppe: Transfer Learning for OCRopus Model Training on Early Printed Books. In 027.7 Journal for Library Culture (2017). URL = http://0277.ch/ojs/index.php/cdrs_0277/article/view/169/366.
Die händische Nachkorrektur des OCR-Outputs wird durch den von KALLIMACHOS entwickelten synoptischen Transkriptionseditor erleichtert, der u.a. über eine eigene Benutzerverwaltung zur Planung und Aufgabenverteilung verfügt und die Korrektur und Auswahl der aus heutiger Sicht ungewohnten Drucktypen durch die Einbindung von Typentabellen unterstützt. Die für das frühneuzeitliche Druckbild typischen Sonderzeichen können in den Editor geladen werden und stehen bei der Korrektur schnell parat. Die aufwändige und fehleranfällige Suche nach den korrekten Unicode-Zeichen und die bei der Arbeit in externen Editoren oft auftretenden Probleme bei der Wahl der Textkodierung entfallen. Um die transkribierten Texte in einer vollwertigen digitalen Edition mit synoptischer Funktionalität zu vereinigen, sind umfangreiche Auszeichnungen von Text und Bild nötig. Layoutelemente wie Textspalten, Überschriften und Marginalien, aber auch semantische Komponenten wie die argumentative Struktur der Spruchgedichte werden verzeichnet und sollen auch über mehrere Ausgaben des Narrenschiffs hinweg auffindbar und vergleichbar sein. Auf der Basis von Semantic MediaWiki wird hierzu ein spezialisiertes Wiki-System geschaffen, über das die hierfür nötigen Auszeichnungen komfortabel konzeptionalisiert, strukturiert und implementiert sowie die für die spätere Anzeige im Portal benötigten Abfragen getestet werden können.
Im Anschluss werden aus dem Semantic MediaWiki automatisch XML-basierte TEI-Dateien generiert, um die Langlebigkeit und plattformübergreifende Weiterverarbeitung der erarbeiteten Texte zu gewährleisten. Die TEI-Daten sind die Grundlage für die Online-Präsentation der ‚Narrenschiffe‘. Diese wird alle 15 ‚Narrenschiffe‘ unter einer Oberfläche integrieren. Die über ein gemeinsames Register verknüpften Texte werden als Faksimile, als Transkription und ggf. als behutsam normalisierte Lesefassung angezeigt werden können. Eine Zwei-Fenster-Synopse wird es ermöglichen, die ‚Narrenschiffe‘ kapitelweise einander gegenüberzustellen. Über die erstmalige digitale Texterfassung der ‚Narrenschiff‘ vor 1500 hinaus sollen die Synopse und die übergreifende, auf Layoutzonen einschränkbare Suchfunktion die literaturwissenschaftliche Untersuchung der frühen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte des ‚Narrenschiffs‘ auf eine neue Grundlage stellen.
Lehrstuhl für Französische und Italienische Literaturwissenschaft
Am Hubland, Bau 5
D-97074 Würzburg
Professur für deutsche Philologie, insb. Literaturgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit
Am Hubland, Bau 4
Am Hubland
Telefon: 0931/31-80534
Arbeitsgruppe Data Mining und Information Retrieval